Arthropathien und Myopathien bei Schilddrüsenfunktionsstörungen

Der nachfolgende Text wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Dr. Volker Nehls (Internistische Abteilung, Rheinisches Rheuma-Zentrum, St. Elisabeth-Krankenhaus, Meerbusch).

Bereits 1873 wurde ein Zusammenhang zwischen Schilddrüsenleiden und rheumatischen Beschwerden beschrieben. L-Thyroxin, das Schilddrüsenhormon, beeinflusst die Funktion fast aller Gewebearten. Auch Muskelzellen, Knorpelzellen und knochenauf- und abbauende Zellen werden durch Schilddrüsenhormon reguliert. Myopathie (Muskelleiden mit Muskelschmerzen und Muskelschwäche) und Arthropathie (Gelenkleiden) können sowohl Folge einer Überfunktion als auch einer Unterfunktion der Schilddrüse sein.

Das Zusammenspiel zwischen Schilddrüse, Immunsystem und Bewegungsapparat hat viele Facetten. Das bisher noch relativ übersichtliche Bild, nach dem das TSH (Schilddrüsenstimulierendes Hormon) der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) die Schilddrüse zur Produktion und Freisetzung des L-Thyroxin stimuliert und Schilddrüsenhormon im Sinne einer negativen Rückkopplung die TSH-Produktion der Hypophyse hemmt, wurde in jüngerer Zeit kompliziert durch den Nachweis, dass TSH nicht nur in der Hypophyse, sondern auch in zahlreichen anderen Geweben und Zelltypen produziert wird, darunter Lymphozyten und Darmepithelzellen. Das Immunsystem beeinflusst somit die Schilddrüsenfunktion, Schilddrüsenhormon steuert in sehr differenzierter Weise das Immunsystem, und ausserhalb der Schilddrüse produziertes TSH reguliert die Aktivität immunkompetenter Zellen.

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Gelenkschmerzen und Gelenkentzündungen können sowohl bei einer Überfunktion wie bei einer Unterfunktion der Schilddrüse auftreten:

Arthropathien bei Schilddrüsenfunktionsstörungen

Schilddrüsenhormon ist unverzichtbar für Entwicklung und Reifung des Gehirns, für das Längenwachstum und Gesundheit des Gelenkknorpels, für die Funktion des Herz-Kreislauf-Systems und für die Regulation des Stoffwechsels und endokrinen Systems.

Die Integrität des Bewegungsapparates kann also sowohl durch direkten Einfluß des Schilddrüsenhormons auf Gewebe wie Gelenkknorpel und Muskulatur beeinträchtigt werden als auch durch indirekte Effekte wie metabolische Veränderungen (z.B. Fettstoffwechselstörung), neurologische Effekte (z.B. Bewegungsmangel bei Hypothyreose) oder sekundäre endokrine Effekte (z.B. Interaktion mit Glukokortikoiden, s.u.).

Eine türkische Arbeitsgruppe zeigte 2003, dass Patienten mit einer Hypothyreose häufiger an einem Carpaltunnelsyndrom, einer eingeschränkten Gelenkbeweglichkeit und an Dupuytren-Kontrakturen leiden, während Patienten mit einer subklinischen Hyperthyreose häufiger eine adhäsive Kapsulitis (z.B. “frozen shoulder”, akute Schultersteife) entwickeln (Cakir et al., 2003).

Wenngleich eine adhäsive Kapsulitis ohne systemische Entzündungsaktivität einhergeht, so spricht die Erkrankung doch oft gut auf Cortison-Injektionen oder auf eine orale Cortisontherapie an (Buchbinder et al., 2006). Kernspintomographische Untersuchungen zeigen, dass die Gelenkkapsel bei akuten Schultersteifen verdickt und das Volumen an Gelenkflüssigkeit reduziert ist (Lee et al.,2003). Die Pathogenese der idiopathischen adhäsiven Kapsulitis ist nicht bekannt. Häufiger betroffen sind Frauen mittleren Alters. Eine endokrine Mitverursachung ist, wie oben besprochen, nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht auszuschliessen.

Thyroxin erhöht den Glukocorticoidbedarf

Die Wirkung des Schilddrüsenhormons am Gelenk kann nicht losgelöst von anderen Hormonsystemen betrachtet werden Insbesondere Cortisol interagiert auf komplexe Weise mit L-Thyroxin bzw. dessen Metabolit T3. Patienten mit einem Cortisolmangel (Nebennierenrindeninsuffizienz) weisen oft osteoartikuläre Beschwerden auf, die denen von Patienten mit Schilddrüsenfunktionsstörungen ähneln (Halimi et al., 1986). Es ist bekannt, dass sich die Symptome eines Cortisonmangels oft erst nach Implementierung einer Thyroxin-Substitution entwickeln. Daher muß bei Patienten mit einer Hypophyseninsuffizienz zuerst Cortison und dann Thyroxin substituiert werden. Thyroxin erhöht den Cortisol-Bedarf, entsprechend finden wir bei Patienten mit einer Nebennierenrindeninsuffizienz häufig die Konstellation einer subklinischen Hypothyreose, die als Adaptation des Organismus an die Bedingungen des Cortisolmangels interpretiert werden muss.

NF-kappaB ist ein redoxsensitiver Transkriptionsfaktor, der durch reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) stimuliert wird. Schilddrüsenhormon (L-Thyroxin) führt zu einem erhöhten Anfall von ROS und über NF-kappaB zu einem Anstieg entzündlicher Mediatoren wie IL-1beta. Diese hemmen im Sinne einer negativen Rückkopplung die Expression des Schilddrüsenhormonrezeptors und die Bildung von aktivem T3 aus T4. Diese kompensatorische Erniedrigung von T3 findet sich als sogenanntes Low T3-Syndrom (euthyroid sick syndrome) bei vielen schwereren Erkrankungen und hat dort offenbar die Aufgabe, eine überschiessende Entzündungsreaktion zu verhindern.

Eine Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose), entweder endogen oder infolge einer inadäquat hohen Thyroxindosis, führt zu einer Aktivierung des NF-kappaB-Signalweges und einer gesteigerten humoralen Entzündungsreaktion. Wenn eine entzündlich-rheumatische Erkrankung in Kombination mit einer Hyperthyreose auftritt, ist daher mit einem erhöhten Cortisonbedarf zu rechnen.

Mehrere Untersuchungen beschreiben eine Assoziation zwischen Schilddrüsenerkrankungen und rheumatischen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis, Fibromyalgie und Kollagenosen. Wir gehen heute davon aus, dass es sich nicht um kausale Beziehungen handelt, sondern nur um eine Koinzidenz, die eine verstärkte autoimmune Reaktionslage dieser Patienten anzeigt. Besonders auffällig sind erhöhte Schilddrüsenantikörper und eine höhere Rate an Autoimmunthyreoiditiden bei Patienten mit Psoriasisarthritis und rheumatoider Arthritis (Antonelli et al., 2006). Patientinnen mit rheumatoider Arthritis haben ein dreifach erhöhtes Risiko, eine Schilddrüsenunterfunktion zu entwickeln (Ratermann et al., 2007). Es ist davon auszugehen, dass die Hypothyreose das kardiovaskuläre Risiko dieser Patientinnen erhöht.

Acropachie bei Hyperthyreose

Eine seltene rheumatische Manifestation bei Hyperthyreose ist die sogenannte Acropachie (im engl. Schrifttum thyroidal acropachy, auch als Pachydermoperiostose bezeichnet). Klinisch zeigt sich eine meist schmerzlose Verdickung von Fingerendgliedern (im Extremfall Entwicklung sog. Trommelschlegelfinger, engl. clubbing) und seltener Zehen, eine Krümmung der Nägel (sog. Uhrglasnägel) und röntgenologisch eine weiche Verdickung der Knochenhaut (Periost). Die Acropachie bei Schilddrüsenerkrankungen betrifft überwiegend Raucher mit einer floriden Basedow-Hyperthyreose und stimulierenden Schilddrüsenantikörpern (TSH-Rezeptor-Ak, TRAK). Fast alle Patienten weisen zugleich eine endokrine Orbitopathie und eine Dermopathie (z.B. prätibiales Myxödem) auf (Fatourechi et al., 2002).

Die Acropachie kann offenbar auch den Heberden-Knoten bei Fingerpolyarthrose ähneln. Wenn Heberden-Knoten bei jüngeren (prämenopausalen) Frauen auftreten, liegt häufig eine Immunthyreoditis vor (Hashimoto-Thyreoditis oder M. Basedow; Yoshino et al., 1990).

Differentialdiagnostisch abgegrenzt werden muß die pulmonale Osteoarthropathie (Marie-Bamberger-Syndrom) und die primäre Pachydermoperiostose (Touraine-Solente-Gole-Syndrom). Bei diesen Erkrankungen findet sich in der Regel eine deutlichere Periostverdickung und eine Beteiligung nicht nur der Fingerendglieder sondern auch der kurzen und langen Röhrenknochen. Röntgenologisch zeigt sich die Periostreaktion bei der thyreoidalen Acropachie in der Regel als weiche und fransige Verdickung wohingegen bei der pulmonalen und primären Osteoarthropathie eine zwiebelschalenähnliche, lamelläre Periostverdickung zu beobachten ist.

Bei der häufigeren pulmonalen Osteoarthropathie soll die Angiogenese-Stimulation durch VEGF (vaskular endothelial growth factor) und PDGF (platelet derived growth factor) eine wichtige pathogenetische Rolle spielen (Atkinson und Fox, 2004). Ungeklärt zur Zeit ist, ob auch bei der thyreoidalen Acropachie ein ähnlicher Pathomechanismus existiert. Bisher spricht mehr dafür, dass bei dieser Erkrankung, wie bei der endokrinen Orbitopathie, eine Stimulation von Fibroblasten durch gewebsgängige Antikörper stattfindet. Fibroblasten exprimieren den TSH-Rezeptor und Antikörper gegen den TSH-Rezeptor stimulieren daher nicht nur die Schilddrüse, sondern auch Fibroblasten anderer Gewebe (Khoo und Bahn, 2007). Die TSH-Rezeptor-Antikörper bewirken so eine vermehrte Produktion von Grundsubstanz, eine Hautverdickung (prätibiales Myxödem) und Acrodermoperiostose.

Arthropathie bei Schilddrüsenunterfunktion

Das Längenwachstum ist abhängig von einer ausreichenden Schilddrüsenfunktion, da Thyroxin wichtig ist für das Knorpelwachstum in den Epiphysenfugen. Kinder mit einer Hypothyreose bleiben daher in ihrer Endgröße hinter ihren Alterskameraden zurück. Der Knorpel der Wachstumsfugen wird sowohl durch Schilddrüsenhormon wie durch Wachstumshormon stimuliert.

Der erwachsene Mensch verfügt über keine Wachstumsfugen mehr, aber über hyalinen Gelenkknorpel, der unverzichtbar ist für die Funktion der Gelenke. Der Gelenkknorpel ist abhängiger vom Schilddrüsenhormon als vom Wachstumshormon. Bei Patienten mit Arthrosen finden sich keine erniedrigten Wachstumshormonspiegel und in der Flüssigkeit degenerativ veränderter Gelenke fanden sich z.T. sogar erhöhte Wachstumshormonkonzentrationen (Denko und Malemud, 2005).

Die Schilddrüsenunterfunktion ist eine bekannte und wichtige Ursache von Gelenkverschleißerkrankungen (McLean und Podell., 1995; Devecerski et al., 2006). Bei höhergradiger Hypothyreose können entzündlich imponierende Gelenkschwellungen mit Ergußbildung auftreten, insbesondere in Handgelenken und Kniegelenken. Die Analyse der Gelenkflüssigkeit zeigt in der Regel einen viskösen und nicht-entzündlichen Erguß (McLean und Podell 1995). Beschrieben wurde bei der Schilddrüsenunterfunktion auch eine erosive Arthose der Fingermittelgelenke, die sich unter einer Thyroxinersatztherapie vollständig zurückbildete (Gerster und Valceschini, 1992). Aus diesem Grunde sollte bei jeder ausgeprägten und erosiven Fingerpolyarthose auch eine Kontrolle des Schilddrüsenstatus erfolgen, um diese seltene Ursache einer destruierenden Arthopathie auszuschliessen.

Frühere Untersuchungen deuteten an, dass eine Schilddrüsenunterfunktion auch die Entwicklung einer Chondrokalzinose begünstigt. Studien neueren Datums zeigen jedoch, dass die bei weitem meisten Chondrokalzinosen “idiopathischer Genese” sind. Eine Verursachung durch eine Hypothyreose wird heute von den meisten Autoren ausgeschlossen (Job-Deslandre et al., 1993). Rheumatologisch relevant ist allerdings eine mögliche Auslösung eines Pseudogicht-Anfalls durch eine Erhöhung der L-Thyroxin-Dosis oder durch eine neu begonnen Thyroxin-Substitution: die Kalzium-Kristalle bei der Chondrocalcinose (Kalzium-Pyrophosphat-Kristalle) bleiben solange asymptomatisch, wie sie eingebettet in den Gelenkknorpel vorliegen. Wenn die Kristalle jedoch den Knorpel verlassen und die freie Gelenkflüssigkeit erreichen, tritt die sogenannte Pseudogicht-Attacke auf, d.h. eine schmerzhafte Gelenkentzündung. Die Verlagerung der Kristalle aus dem Knorpel in die freie Gelenkhöhle, im englischsprachigen Schrifttum als “shedding” bezeichnet, ist abhängig vom Gewebedruck innerhalb des Knorpels. Da Schilddrüsenhormon das Knorpelzellwachstum stimuliert, steigt der Druck im Gelenkknorpel und die Kristalle werden, dem Druckgradienten folgend, herausgedrückt und erreichen so die Gelenkflüssigkeit. Dieser mechanistische Vorgang erklärt die klinisch seltene Beobachtung, dass Pseudogicht-Anfälle nach Beginn einer Schilddrüsenhormon- substitution auftreten können. Selbstverständlich kann dieses jedoch kein Grund sein, eine klinisch gebotene Thyroxinersatztherapie einzustellen.

Myopathien bei Schilddrüsenfunktionsstörungen

Auch Muskelerkrankungen sind selten Folge von Schilddrüsenfunktionsstörungen.

Muskelleiden (Myopathien) können an beiden Extremen der Schilddrüsenstoffwechsellage auftreten: Überfunktion und Unterfunktion. Schilddrüsenhormon ist unverzichtbar für die Funktion der Herzmuskulatur wie auch der Skelettmuskulatur. In beiden Muskelzellarten wird die Energieverbrennung und die Muskelkraft stimuliert. Bei einer ausgeprägten Hypothyreose kommt es daher zu einer Herzinsuffizienz und zu einer Erkrankung der Skelettmuskulatur (Mastropasqua et al., 2003). Diese Hypothyreose-Myopathie (Hoffman’s Syndrom) zeigt sich in proximal betonten Muskelschmerzen, in einer Muskelschwäche trotz Verdickung der Muskulatur und in einem Anstieg der Muskelenzyme wie der Creatininase (CK). Besonders gefährdet, diese Erkrankung zu entwickeln, sind Patienten, die an einer Hypothyreose leiden und gleichzeitig mit cholesterinsenkenden Medikamenten aus der Gruppe der Statine behandelt werden (z.B. Pravastatin, Simvastatin). Klinisch ist das Hoffman-Syndrom leicht mit einer Polymyositis zu verwechseln. Die Prognose ist in der Regel gut. Bei rechtzeitig einsetzender Hormonsubstitution kommt es zu einer kompletten Erholung des Patienten.

Eine Schilddrüsenüberfunktion kann zu dem seltenen Krankheitsbild der thyreotoxischen periodischen Lähmung führen (Kung 2006). Relativ häufiger betroffen sind Asiaten, insbesondere jüngere Männer. Schilddrüsenhormon aktiviert die Na/K-ATPase der Skelettmuskulatur und führt so zu einem verstärkten Kaliumeinstrom in die Muskelzellen, insbesondere nach stärkeren körperlichen Anstrengungen. Verstärkt wird der Kaliumeinstrom noch durch Insulin und durch das Streßhormon Adrenalin. In der Folge sinkt der Kaliumspiegel im Blut, bisweilen auf lebensbedrohlich niedrige Werte. Typisch ist eine Schilderung von wiederkehrender Muskelschwäche bis hin zur Lähmung, insbesondere nach Sport und anschliessenden kohlehydratreichen Mahlzeiten (Insulinwirkung verstärkt durch Sport, Insulinspiegel erhöht nach Mahlzeit).

Das Ausmaß der Hyperthyreose bei der periodischen hypokaliämischen Lähmung ist oft nur gering. Die Ursache der Hyperthyreose (hyperfunktioneller Knoten oder Immunthyreopathie) ist für die Entwicklung der Erkrankung weniger wichtig als die genetische Ausstattung des Patienten. Durch Behandlung mit einem nicht kardio-selektiven Betablocker wie Propranolol (nicht Metoprolol) lässt sich die Erkrankung wirksam behandeln. Akut ist bei ausgeprägter Hypokaliämie eine intravenöse Kaliumgabe erforderlich. Um eine rebound-Hyperkaliämie zu vermeiden sollte das Kalium im Anfall nur vorsichtig auf niedrig-normale Werte angehoben werden (Kung 2006). Eine Sanierung der Hyperthyreose führt zur abschliessenden Ausheilung der Erkrankung.

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