Kein Schlussstrich unter die Akten Tschernobyl und Fukushima

Die einheimische Bevölkerung leidet bis heute unter den katastrophalen Auswirkungen der Reaktorunglücke von Tschernobyl und Fukushima.

Der am 17.02.2016 veröffentlichte IPPNW-Report „5 Jahre Leben mit Fukushima – 30 Jahre Leben mit Tschernobyl“ zeigt, dass die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophen bis heute andauern und die Kapitel Tschernobyl und Fukushima noch jahrzehntelang nicht geschlossen werden dürfen. Der Bericht gibt einen Überblick über die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und erläutert den derzeitigen Stand des Wissens zu den Folgen der beiden Atomkatastrophen. Jenseits der Kontroversen um die Folgen langfristiger Strahlenexposition mehren sich anerkannte wissenschaftliche Publikationen, die nachweisen, dass sogenannte „Niedrigstrahlung“ wesentlich gefährlicher ist als bislang angenommen.

Schon sehr kleine Strahlendosen führen zu signifikant erhöhten Risiken für Krebs, Herzkreislauferkrankungen, perinataler Sterblichkeit sowie Fehlbildungen bei Neugeborenen. Außerdem ist in großen Teilen Zentral- und Osteuropas und in Teilen Asiens das Geburtengeschlechtsverhältnis nach Tschernobyl sprunghaft und hochsignifikant angestiegen. Dieser Effekt weist deutlich auf eine Beeinträchtigung der menschlichen Erbanlagen durch „Niedrigstrahlung“ hin.

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Die Atomkatastrophe von Fukushima ist noch lange nicht vorbei. Tagtäglich fließen laut Angaben von TEPCO ca. 300 Tonnen radioaktives Abwasser ins Meer. Millionen von Menschen wurden und werden seit Beginn der Katastrophe erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in den Regionen mit relevantem radioaktiven Niederschlag, aber auch in weniger belasteten Teilen des Landes, wo Menschen mit verstrahltem Trinkwasser und radioaktiv kontaminierter Nahrung konfrontiert werden.

Die neuesten Daten der Schilddrüsenuntersuchungen in der Präfektur Fukushima bestätigen einen besorgniserregenden Anstieg der Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Insgesamt 115 Kinder mussten bereits wegen metastasierten oder stark wachsenden Krebsgeschwüren in ihren Schilddrüsen operiert werden. Die jährliche Rate von Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Japan wird vom japanischen Gesundheitsministerium mit 0,3 pro 100.000 angegeben. Bei einer Bevölkerung von 300.000 Kindern war somit damit zu rechnen, dass ein Schilddrüsenkrebsfall im Jahr festgestellt wird. Andere Folgeschäden als Schilddrüsenkrebs bei Kindern schloss die japanische Regierung von vorne herein aus. Sie versäumte es, für die kontaminierte Bevölkerung inklusive der vielen AufräumarbeiterInnen, ein Fukushima-Register aufzubauen, in dem diese Bevölkerungsgruppen regelmäßigen Gesundheitschecks unterzogen werden.

Auch der Super-GAU von Tschernobyl betrifft 30 Jahre später noch immer Millionen von Menschen weltweit: mehr als 830.000 AufräumarbeiterInnen („LiquidatorInnen“), 350.000 Evakuierte aus der 30 km-Zone und weiteren sehr stark kontaminierten Regionen, 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas, die geringeren Strahlendosen ausgesetzt wurden. Rund 36 % der Gesamtradioaktivität ging damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53 % über dem Rest Europas. 11 % verteilten sich über den restlichen Globus. Neben einem rasanten Anstieg von Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern, kam es vor allem in der Tschernobylregion zu einem generellen Anstieg diverser Krebsarten wie Brustkrebs und Leukämie. Ebenso erschreckend ist der Anstieg von verschiedenen Nichtkrebserkrankungen, insbesondere des Herz-Kreislaufsystems, der Lungen, der Blutzellen, der Schilddrüse, Diabetes und Hirnschäden, besonders bei Kindern und den LiquidatorInnen. Mindestens 112.000–125.000 LiquidatorInnen sind bereits gestorben, vor allem an Schlaganfällen, Herzinfarkten und Krebs. Sie machen die größte Zahl unter den Todesopfern aus. Fehlbildungen und eine erhöhte Perinatalsterblichkeit fanden sich nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch in verschiedenen europäischen Ländern und dauern bis heute an.

Institutionen wie die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) spielen die Folgen der atomaren Katastrophen bis heute herunter. Die Angabe der IAEO von lediglich 4.000 Toten als Folge von Tschernobyl stellt eine gravierende Unterschätzung und den unverhohlenen Versuch dar, die Folgen von Tschernobyl kleinzurechnen. Betrachtet man die wichtigsten internationalen Forschungsergebnisse, so liegt die Anzahl der zu erwartenden tschernobylbedingten Krebserkrankungen zwischen einigen Zehntausend und rund 850.000.

Auch im Fall der atomaren Katastrophe von Fukushima haben IAEO und UNSCEAR versucht, nach nur fünf Jahren eine abschließende Aussage über die Langzeitfolgen der Atomkatastrophe zu treffen, indem sie behaupteten, dass es zu keinen „relevanten“ oder „messbaren“ Strahlenfolgen in der betroffenen Bevölkerung kommen wird. Da sich vor allem Krebs- und Herzkreislauferkrankungen erst nach Jahren und Jahrzehnten klinisch manifestieren, ist eine solche Aussage unwissenschaftlich und unseriös.

Das zeigt sich auch in der Tatsache, dass die Mitglieder von UNSCEAR sich in ihrem Bericht im Wesentlichen auf die Angaben der IAEO, der Betreiberfirma TEPCO und der japanischen Atombehörden stützen. Neutrale unabhängige Institute und Forschungseinrichtungen werden ignoriert. Die Dosisberechnungen der betroffenen Bevölkerung im Bericht beruhen maßgeblich auf Nahrungsmittelproben der IAEO, einer Organisation, deren Hauptziel die weltweite Förderung von Atomenergie ist. Unliebsame Ergebnisse von unabhängigen Nahrungsmittelstichproben wurden ignoriert. Zur Schätzung des Gesamtausstoßes von Radioaktivität wurden Angaben der japanischen Atomenergiebehörde herangezogen, statt die deutlich höheren Berechnungen unabhängiger Institute zu berücksichtigen. Die Strahlendosen der Kraftwerksarbeiter wurden größtenteils direkt von der umstrittenen Betreiberfirma TEPCO übernommen.

Statistisch gesehen sind in ganz Japan im Laufe der nächsten Jahrzehnten knapp 10.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten, selbst wenn man mit den geschönten UNSCEAR-Zahlen und konservativen Risikofaktoren rechnet. Nutzt man andere Daten und modernere, realistischere Risikofaktoren, kommt man auf deutlich höhere Zahlen, etwa bis zu 66.000 zusätzlichen Krebsfällen, ca. die Hälfte davon mit tödlichem Verlauf.

Auch in Japan setzt die mit der Atomindustrie eng verflochtene Regierung alles daran, die Akte Fukushima so schnell wie möglich zu schließen. So werden außer der Reihenuntersuchung kindlicher Schilddrüsen in der Präfektur Fukushima keine epidemiologischen Studien durchgeführt – getreu dem Motto: Was nicht untersucht wird, kann auch nicht gefunden werden. Auch wurden Gesetze zum sog. „Geheimnisverrat“ erlassen, die es Journalisten und Wissenschaftlern erschweren sollen, unabhängig zu den Ereignissen in Fukushima zu forschen und zu berichten.

„Der öffentliche Diskurs zu den gesundheitlichen Folgen der atomaren Katastrophen sollte nicht um Profite, Macht und politischen Einfluss geführt werden, sondern das Schicksal und die Gesundheit der betroffenen Menschen im Blick haben. Die Gesundheitsrisiken müssen von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht werden, und jeder Verdacht auf Beeinflussung durch die Atomindustrie und ihre politischen Unterstützer muss ausgeschlossen sein. Umfangreiche Studien sind nötig, um die gesundheitlichen Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung zu verstehen, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zukünftige Generationen durch neue Erkenntnisse vor den Folgen ionisierender Strahlung besser zu schützen. Es geht es um mehr als nur das Prinzip der unabhängigen Forschung, die sich dem Einfluss mächtiger Lobbygruppen widersetzt. Es geht um das universelle Recht eines jeden Menschen auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt“, erklären der stellvertretende IPPNW-Vorsitzende Dr. Alex Rosen und die IPPNW-Europa-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen.

Quelle: ippnw.de (Link geprüft am 13.09.23)

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